Auf unsrer Insel gab es wenig Bäume. So wenig, dass das Brennholz von weither über
das Wasser geholt werden musste und dass viele der Inselbewohner niemals einen Wald
gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltener Artikel, was uns als Kinder immer
sehr aufregte. Denn wenn es auf die Weihnachtszeit zuging, tauchten immer wieder
die Zweifel auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen Tannenbaum am Heiligen
Abend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Walde gewachsen war und in dessen
Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen falschen, der in der Werkstatt des Meisters
Ahrens das Licht der Welt erblickt hatte.
Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen Kopf, aber wir
hatten ihn gern, besonders wenn er nicht immer von seinem guten Herzen sprach. Das
langweilte uns, weil wir es eigentlich für selbstverständlich hielten, dass man ein gutes Herz
haben müsse.
Ahrens kam oft zu uns. In unsrer Kinderstube ging alle Augenblicke etwas auseinander, was
eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann mit seinem Leimtopf, sagte,
er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder zusammen. Wir halfen ihm natürlich und
drängten uns um die Ehre, in seinem klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber
seine Tannenbäume konnten wir nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir schon
so lange vorher sahen, wie er sie machte. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen
weißen Stöcken, in die er Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit
grasgrüner Ölfarbe an und trocknete sie vor seiner Haustür. Später sahen wir sie
zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann
verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke und betrieb
einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer von seinem Fabrikat
an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, dass seine Bäume schließlich sehr nett aussahen,
so verhielten wir uns meist ablehnend. „Sie sind so billig“, sagte Ahrens eines Tages zu uns,
als wir ihn einer Bestellung wegen in seiner Werkstatt besuchten und er gerade einen grünen
Stock etwas nachmalte.
„Wir wollen sie doch nicht!“, erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen Aussprüchen oft
sehr bestimmt war. „Ich mag keinen falschen Tannenbaum!“
„Falsch! Du lieber Gott, was ́n Wort!“ Ahrens sah beleidigt aus. „Da is nich die geringste
Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner als die natürlichen, kann ich dich sagen,
mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und bei mich is bloß die reine
Ölfarbe!“
„Wo bekommst du eigentlich die Tannenzweige her?“, fragten wir.
Der alte Tischler machte ein wichtiges Gesicht. „Aus 'n Wald, aus 'n richtigen Tannwald, wo
die Vögelns singen, und wo soviel Bäumens stehn, dass man mannichmal keine Luft kriegen
kann!“
„Wo liegt der Wald, und wer holt dir die Tannenzweige?“
Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an. Aber er zuckte
die Achseln. „Ja, das möcht ihr wohl wissen! Das sag ich abersten nich – nee, das sag ich
nich!“
Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und
dadurch gewannen sie natürlich in unsern Augen.
Es war schon ziemlich nahe vor Weihnachten, und wir sprachen eigentlich von nichts anderm
als von dem bevorstehenden Feste. Wir konnten es kaum erwarten. Endlos lange
Wunschzettel waren geschrieben; hin und wieder wurde eine Träne über eine völlig
missglückte Weihnachtsarbeit vergossen oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch
verschenken wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich
schnell dahin.
nach: http://projekt.gutenberg.de, Charlotte Niese